EIN GUTER TAG

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Mit einer schnellen Bewegung, die sie schon viele tausend Mal gemacht hat und ihr in Fleisch und Blut übergegangen ist, verschließt Anne den Skischuh. Doch ihre Hand verharrt auf ihrem Bein, kurz unter dem Knie. Mit einer gleitenden Bewegung streicht sie über etwas Unsichtbares, eine Erinnerung, die sich als lange Narbe auf der Haut ihres Beins abzeichnet.

Schließlich lässt Anne den Skischuh in die Bindung schnappen. Ein kurzes Klicken, und ihre Ferse sitzt fest in Position. Sie sieht auf und lässt den Blick über die eindrucksvolle und zerklüftete Gipfelsilhouette von Alta Badia schweifen. Es ist schon spät, und die Pisten sind zerfurcht und buckelig. Doch das spielt keine Rolle, wenn man den Tag wirklich genießen will. Es spielt keine Rolle, wenn man wirklich weiß, wie wertvoll ein Tag auf Skiern ist.
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“Perfektion ist doch nur eine Ausrede, mit der wir unsere Ängste rechtfertigen”

Denkt Anne, während sie mit der Kante ihres Skis vorsichtig die Festigkeit des Schnees kontrolliert, bevor sie losfährt.

“Die Bedingungen sind nicht perfekt, also lasse ich es bleiben. Die Bedingungen sind nicht perfekt, also bleibe ich lieber zu Hause. So ein Quatsch.”

Das Leben selbst ist Unvollkommenheit.

Heute passt das Wetter nicht, morgen sind es die Schneeverhältnisse, und übermorgen ist es die Narbe, die mich an die Metallplatte in meinem Bein erinnert, die die Knochen zusammenhält - es wird immer irgendetwas geben, das nicht perfekt ist. Erst wenn Unvollkommenheit als wesentlicher Bestandteil des Universums akzeptiert wird, hat man die Möglichkeit, sein Leben zu ändern.

Denn die Bedingungen sind nicht wichtig. Im Gegenteil, sie sind Teil eines größeren Ganzen

Sie haben Dich zu dem gemacht, was Du bist und sind Teil der Geschichte, die Du abends erzählen wirst, glücklich und erschöpft am Ende eines Tages, an dem andere zu Hause oder im Quartier geblieben sind und vergeblich auf perfekte Bedingungen gewartet haben.

Denn es spielt keine Rolle, ob man Freerider oder Skibergsteiger ist, und ob man schnell durch die Tore kommen oder seine Heimatberge erkunden möchte. Es ist ganz egal, ob der Himmel leuchtend blau ist oder der Schnee im Nebel verschwindet.

Worauf es einzig und allein ankommt, ist das Skifahren..

Wabi-Sabi nennen die Japaner das

Zwei einfache Worte für eine komplexe Erkenntnis: Nichts bleibt, nichts ist abgeschlossen, nichts ist perfekt. Genau hieraus bezieht das Universum seine Schönheit. Und doch haben wir die Freiheit, unsere eigenen Unzulänglichkeiten oder die Bedingungen so zu akzeptieren, wie sie sind, und sie nicht unseren Wünschen zu unterwerfen

Es ist das Leben im Augenblick: sich zu sammeln, seine Ideallinie festzulegen und loszufahren, gleichmäßig und souverän.

Anne atmet tief durch und beginnt ihre Abfahrt. Sie achtet auf die Rückmeldungen ihrer Beine, steuert den Druck auf den Ski und die Geschwindigkeit, fängt die Stöße einen nach dem anderen auf und genießt das Fahrgefühl. Wenn es wirklich so etwas wie Perfektion gibt, dann fühlt es sich wahrscheinlich so an.

Wir brauchen nicht das Gefühl, wie der Schnee unter den Kanten unserer Skier kratzt, um zu erkennen, wer wir sind.

Wir müssen nicht in einer Pulverschneewolke talwärts stürzen, um zu spüren, dass wir Skifahrer sind.

Die Fahrt ist wichtig, ganz gleich, wie die Bedingungen sind.